Autor*innenpapier: Kümmern als Beruf

Anlässlich des 1. Mai und als Beitrag zum Grundsatzprogrammprozess von Bündnis 90/Die Grünen haben Gesine Agena, Sandra Detzer, Katja Dörner und Kordula Schulz-Asche das Positionspapier “Kümmern als Beruf” verfasst.

Kümmern als Beruf

Über Jahrhunderte waren bestimmte Tätigkeiten Frauensache – Haushalt in Ordnung halten, die Kinder aufziehen und die Alten und Kranken in der Familie pflegen. Es gab wenige Berufe, in denen Frauen tätig waren, im Gesundheitswesen zum Beispiel als Hebammen. Doch seit der Industriellen Revolution hat sich das gesellschaftliche Leben stark verändert, die Großfamilie gibt es nur noch selten. Stattdessen sind Frauen heute meist voll in das Arbeitsleben integriert. Hohe Mobilität führt dazu, dass Familien weit auseinander wohnen. Und erst in den letzten Jahrzehnten ist es gelungen, für Kinder frühe Bildung und Betreuung außerhalb der Familie – insbesondere durch den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz – zu ermöglichen.

Der gesellschaftliche Wandel führte dazu, dass die Tätigkeiten des „Kümmerns“ zu Recht professionalisiert wurden. Viele Berufe des Kümmerns und der sozialen Arbeit haben sich in den letzten Jahren emanzipiert. Heute stellen wir hohe fachliche Ansprüche an diese Berufe, sei es in den Kitas, in Pflegeeinrichtungen, an Hebammen oder den Allgemeinen Sozialen Dienst. Wissen wird nicht mehr nur von Generation zu Generation weitergegeben, sondern an Fachschulen oder sogar Universitäten erlernt. Ohne die Fähigkeiten dieser Berufe würden unser Wirtschaftssystem und unsere Gesellschaft als Ganzes nicht funktionieren.

Doch nach wie vor wird diesen Fachkräften, überwiegend weiterhin Frauen, ein zu geringer Wert beigemessen und sie werden wie Hilfskräfte bezahlt nach dem Motto „Pflegen kann jeder“ oder „in der Kita wird mit den Kindern ja nur gespielt“. Gerade in Berufen, die vor allem von Frauen ergriffen werden, muss für die Ausbildung sogar oft immer noch Schulgeld bezahlt werden – als handele sich bei der Ausbildung um eine Art „Mitgift“, die man in die Ehe einbringt, von der man aber nicht leben kann und es auch gar nicht können sollte.

Jedes Jahr geht es am Equal Pay Day um die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen, die seit Jahren bei etwa 20 Prozent verharrt. Der ganz überwiegende Teil dieser Lohnlücke geht darauf zurück, dass Berufe, in denen vor allem Frauen arbeiten, deutlich schlechter bezahlt werden, als Berufe, in denen größtenteils Männer arbeiten.

Unsere Gesellschaft ist daher aufgefordert, die kümmernden Berufe in ihrer Fachlichkeit zu unterstützen, damit auch das Ansehen zu steigern und die Bezahlung auf ein Niveau vergleichbarer Berufe zu heben. Denn Kümmern als Beruf kann eben nicht jede und jeder, sondern muss gelernt sein.

Natürlich ersetzt eine Erzieherin nicht die Eltern und eine Pflegefachkraft nicht die pflegenden Angehörigen. Umso wichtiger ist es, die Einsatzfelder von Nicht-Professionellen von den Professionellen klar abzugrenzen. Der Wert des professionellen Kümmerns in der Gesellschaft ist durch umfassende Berufsbilder dringend zu verbessern. Gleichzeitig brauchen Familien mehr professionelle Unterstützung. Hier kommt auf der praktischen Ebene auch die Gemeinde oder das Stadtviertel ins Spiel – mit der Vernetzung professioneller, familiärer und ehrenamtlicher Tätigkeiten in einem Quartiersmanagement für alle Bewohnerinnen und Bewohner.

Grünes Ziel ist eine altersgerechte und niederschwellige Quartiersentwicklung, die  gut verzahnte Beratung, und Unterstützung bei Wohnen, sozialer Teilhabe und Pflegebedürftigkeit organisiert. Auch die Vernetzung der Kindertagesstätten in ihren Quartieren wollen wir voranbringen, indem wir sie zu Familienzentren mit Beratungs— und Unterstützungsangeboten weiterentwickeln. Kitas als Orte der Bildung und Erziehung wollen wir personell besser ausstatten. Bund, Länder und Kommunen müssen hier Hand in Hand agieren.

Professionelles Kümmern muss in verdienten Wert gesetzt werden: Unser Ziel ist dabei, dass berufliche und private Bedürfnisse der Menschen besser zusammenpassen. Sie sollen sich nicht zerreißen müssen, um Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen. Darum müssen wir die Arbeitsbedingungen und -umstände so ändern, dass Beruf und Familie gut zusammenpassen: sowohl für Arbeitnehmer*innen in den Kümmer-Berufen als auch für Arbeitnehmer*innen mit Kindern oder zu pflegenden Angehörigen.

Kümmern als Beruf muss leistbar sein. Wir wollen, dass der Beruf, egal ob Pflege oder Erziehung, junge Menschen nicht abschreckt. Denn klar ist: Im Jahr 2060 wird nur noch die Hälfte der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sein. Die Konsequenz ist ein enormer Wettbewerb um Fachkräfte in allen Branchen. Wir wollen, dass Kümmern als Beruf attraktiv ist und zwar nicht nur für Einzelkämpfer*innen. Hier setzen wir an, damit unsere Gesellschaft auch im Jahr 2060 noch eine lebenswerte Gesellschaft ist.

Wir wollen Kümmern als Beruf aufwerten und setzen dabei auf:

Wertschätzung

Ohne Menschen, die Kümmern zu ihrem Beruf machen, läuft nichts, unsere Gesellschaft wäre verloren, wir alle sind auf sie angewiesen. Wertschätzung drückt sich in der Bezahlung aus, aber bei weitem nicht nur. Es geht auch darum, wie wir den Kümmer-Berufen begegnen und über sie sprechen. Unsere  Gesellschaft sollte stolz darauf sein, was Frauen in diesen klassischen Frauenberufen leisten und deren Bedeutung für uns alle herausstellen.

Ausbildung

Die Ausbildung in Kümmer-Berufen darf nicht länger gegenüber anderen dualen Ausbildungsgängen oder universitären Ausbildungen benachteiligt werden. Schulgelder müssen der Vergangenheit angehören und während der Ausbildung müssen tarifgebundene Vergütungen bezahlt werden. Wir setzen auf praxisintegrierte Aus- und Weiterbildung und wollen sie für Kümmer-Berufen eröffnen und ausweiten.

Bezahlung

Die heutige Bezahlung in den Kümmer-Berufen wird deren Professionalität und ihrer Verantwortung für unser aller Wohl nicht gerecht. Deshalb setzen wir uns für flächendeckende Tarifverträge ein, die mit deutlich besserer Bezahlung sozialer Arbeit einhergehen.  Auch Leitungsfunktionen, Zusatzqualifikationen oder Studienabschlüsse müssen in den Tarifstrukturen adäquat abgebildet und in den Stellenplänen entsprechend ausgewiesen werden.

Zeit

Menschen in Kümmer-Berufen brauchen Zeit für ihre Arbeit. Deshalb ist die personelle Ausstattung in den Einrichtungen und den ambulanten Diensten so wichtig. Gute, verbindliche Personalstandards sollen sicherstellen, dass Kümmern nicht nach der Stoppuhr erfolgt. Aber Menschen in Kümmer-Berufen brauchen auch Zeit für sich, für Fort- und Weiterbildung, für die eigene Familie, fürs Ehrenamt. Mit konkreten Instrumenten einer grünen Arbeitszeitpolitik, wie dem Recht auf eine Wahlarbeitszeit in vollzeitnaher Teilzeit, wollen wir ihnen Souveränität über ihre eigene Zeit zurückgeben.  Vor allem für Berufe mit hohen Ausfallzeiten und Krankenstand unterstützen wir Arbeitszeitreduktion bei vollem Lohnausgleich (z.B. 6-Stundentag, Drei-Tage-Arbeit-drei Tage-frei).

Personal

Ausreichend Personal ist das A und O für eine gute Betreuung und Pflege. Auf Bundesebene wollen wir einen verbindlichen, an wissenschaftlich hergeleiteten Standards orientierten Personalschlüssel für Pflege und Kitas festlegen, der nicht unterschritten werden darf, und der sicherstellt, dass die Kitas ihrem Bildungsauftrag auch gerecht werden können und Pflegebedürftige gut versorgt werden.

Perspektiven

Gerade in den Kümmer-Berufen gibt es noch zu wenig Perspektiven, sich beruflich weiterzuentwickeln. Einmal Kinderpflegerin, immer Kinderpflegerin – einmal Altenpflegerin, immer Altenpflegerin – das muss nicht sein. Weiterbildung- und Aufstiegsförderung müssen die Kümmer-Berufe gezielt in den Blick nehmen. Bezahlte Auszeiten für Fort- und Weiterbildung sowie Aufbaustudiengänge sollen gesetzlich verankert werden.