Gedenken an die Opfer des Völkermordes in Ruanda 1994 4. April 201421. März 2021 Zum Plenarprotokoll 18/27 Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gab viele Ereignisse, Bilder und Gefühle im Jahr 1994, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Eine kleine Auswahl: Am Abend des 6. April 1994 hatten wir in Kigali einen portugiesischen Arbeitskollegen zu Besuch. Meine dreijährige Tochter lag schon schlafend im Bett, als um 20.20 Uhr ein lauter Knall aus Richtung Flughafen zu hören war. Wenig später erfuhren wir über Telefon und Funkgeräte vom Abschuss des Flugzeugs des damaligen ruandischen Präsidenten. In dieser Nacht auf den 7. April begann der systematische Völkermord an den Tutsi und die Ermordung von moderaten und oppositionellen Hutu. Am 7. April erhielten wir den Anruf der Ehefrau eines Arbeitskollegen, beide Tutsi, die uns verzweifelt um Hilfe bat, weil Soldaten versuchten, in das Haus einzudringen. Plötzlich hörten wir Krachen im Hintergrund und kurz darauf Schreie; dann brach das Gespräch ab. Später haben wir erfahren, dass an diesem Tag die gesamte Familie ermordet worden war. Am 9. April fuhren wir im ersten Konvoi im Rahmen der Evakuierung Richtung Burundi. Als wir uns der kleinen Stadt Gitarama näherten, kam uns ein alter, sehr hoch gewachsener Mann, ein Bauer, entgegen. Er schaute auf den Konvoi, begriff, dass die Ausländer gerade dabei waren, das Land zu verlassen, ließ seinen Stab fallen und schlug verzweifelt die Hände vor das Gesicht. In diesem Moment dachte ich wieder einmal: Wir werden es wahrscheinlich schaffen, aber diese Menschen hier lassen wir zurück. Müsste man nicht bleiben? Müsste man nicht irgendetwas tun? – Ein Gefühl, meine Damen und Herren, das man nie wieder vergisst. Im September und Oktober 1994, nach dem Völkermord, kehrte ich nach Ruanda zurück und erfuhr von vielen Kolleginnen und Kollegen, die unter den Opfern waren, aber auch von jenen Kolleginnen und Kollegen, von denen es hieß, dass sie gemordet haben. So fuhr ich bis 1998 regelmäßig zu der Nichtregierungsorganisation, in der ich vor dem Völkermord gearbeitet hatte, um die Einarbeitung neuer Mitarbeiter zu begleiten. Die Frage „Warum habt ihr nicht geholfen?“ konnte ich allerdings nicht beantworten. Aber seitdem bin ich der festen Überzeugung, dass es eine Verantwortung der internationalen Gemeinschaft gibt, aus den Fehlern in Ruanda zu lernen, um eine Zivilbevölkerung tatsächlich wirksam vor Völkermord zu schützen und vor allem alle Möglichkeiten der Prävention zu erkennen, dann aber auch zu nutzen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Im Mittelpunkt der heutigen Debatte steht für mich das Gedenken an die vielen Opfer des Völkermords in Ruanda. Wir gedenken auch jener, die, sich selbst größter Gefahr aussetzend, anderen geholfen haben. Wir haben aber auch ausdrücklich des Leids derjenigen zu gedenken, die überlebt haben, die Verwandte verloren haben – manche haben ihre ganze Familie verloren –, die, selbst traumatisiert, verstümmelt, vergewaltigt, nun ihren Platz in der heutigen ruandischen Gesellschaft finden müssen. Sie gehören oft zu den Vergessenen dieses Völkermords. Die Konzentration, die richtige Konzentration auf die juristische Verurteilung der Täter vernachlässigt nach wie vor die Frage, wie die Opfer, wie die Zeugen besser unterstützt werden können. Hier, meine Damen und Herren, sehe ich auch international noch großen Handlungsbedarf, auch für die Zukunft. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Der fraktionsübergreifende Antrag erwähnt die ruandischen Bemühungen zur Aufarbeitung, die Arbeit des Arusha-Tribunals, den Aufbau eines geordneten Staatswesens, unterstützt auch durch die Zusammenarbeit mit Deutschland, mit dem Ziel einer guten demokratischen, rechtsstaatlichen und nachhaltig sozioökonomischen Entwicklung in der Region der Großen Seen. Wirkliche Partnerschaft heißt aber auch, immer dann in den Dialog zu treten, wenn Menschenrechte verletzt werden. Die nachhaltige Entwicklung eines Landes ist nur möglich, wenn sich der Rechtsstaat auf eine aktive vielfältige Zivilgesellschaft stützen kann, die keine Angst vor Verfolgung haben muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Auch hier könnte Ruanda zu einem Vorbild werden. Die Bereitschaft, dies zu unterstützen, besteht – da bin ich mir sicher – im gesamten Haus. Die bisherige Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda – ich denke an seine Genese, seine Mechanismen und seine Akteure – hat bereits geholfen, internationale Instrumente der Frühwarnung und Prävention zu entwickeln, auch wenn es – das wird uns immer wieder bewusst – schwere Rückschläge gibt. Besonders die Responsibility to Protect, die durch die Vereinten Nationen 2005 entwickelt und etabliert wurde, geht auch auf die Erfahrungen in Ruanda zurück. Heute ist daher eine entscheidende Frage, ob wir wirklich bereits alle Erfahrungen aufgearbeitet und wirklich alle Konsequenzen gezogen haben. Die Antwort ist: offensichtlich nein. Es ist immer leicht, auf andere zu zeigen. Die Verantwortlichen für das Versagen der internationalen Gemeinschaft während des Völkermords hatten einige schnell identifiziert: die USA mit ihrem Scheitern in Somalia, Belgien als ehemalige Kolonialmacht, Frankreich als starker Verbündeter der Regierung Habyarimana, die Vereinten Nationen, weil sie es versäumt hatten, früher einzugreifen. Und Deutschland? Vor dem Hintergrund der sich hinziehenden Friedensverhandlungen in Arusha häuften sich seit 1992 immer mehr Informationen über Trainingscamps von Milizen, Waffenverteilung, Todeslisten mit Namen von Tutsi und oppositionellen Hutu, über Massaker, auch in großem Ausmaß, an der Bevölkerung. Was wurde aufgrund all dieser Warnungen getan? Warum wurden geheimdienstliche Erkenntnisse Deutschlands nicht an die UN-Ruanda-Mission weitergeleitet? Warum wurde die Bitte der UN im Mai 1994 auf Sanitätssoldaten abgeschlagen? Warum wurden 147 Flüchtlinge, für die Rheinland-Pfalz sogar die Übernahme aller Kosten zugesagt hatte, nicht in Deutschland aufgenommen? Warum dauerte es so lange, bis der damalige Außenminister das Wort „Völkermord“ in den Mund nahm, und warum hatte es, als er es tat, keinerlei Folgen? Warum hat der Bundestag 1994 kein einziges Mal über Ruanda diskutiert? – Das sind nur einige offene Fragen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) „Wo wart ihr? Warum habt ihr uns nicht geholfen?“ Bartholomäus Grill sagt in dieser Woche in einem sehr beeindruckenden Artikel im Spiegel: Ich schäme mich bei solchen Fragen bis heute. Er hinterfragt die eigene Rolle als Journalist und seine 1994, wie er selbst sagt, „flott hingeschriebene Fernanalyse“. Weiter sagt Herr Grill: Am Ende schrieb ich, dass eine Intervention von außen wohl zwecklos sei. Der Text enthält die unverzeihlichsten Irrtümer, die mir in meinem Berufsleben unterlaufen sind. Hoffentlich ist dieser Artikel ein Auslöser der Aufarbeitung von journalistischer Seite der Art und Weise von Berichterstattung, aber zum Beispiel auch der Ausbildung von Journalisten der Zeitschrift Kangura oder des Senders Radio-Télévision Libre des Mille Collines. Es ist auch überfällig, die Verantwortung der deutschen Entwicklungs-, Verteidigungs-, Außen- und Innenpolitik aufzuarbeiten. In den 20 Jahren vor dem Völkermord war Deutschland der zweitgrößte Geber. Ruanda erhielt Ausstattungshilfe für die Streitkräfte, und seit 1978 gab es auch vor Ort eine Beratergruppe der Bundeswehr – bis zum April 1994. DED, GTZ, die Deutsche Welle, politische Stiftungen, die beiden großen Kirchen und viele Nichtregierungsorganisationen wirkten vor Ort. Die enge Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda bestand in den 1990er-Jahren aus über 650 Projekten. Und wieder die Fragen: Wo wart ihr? Warum habt ihr uns nicht geholfen? Die Prävention von Völkermorden bedarf der Entschiedenheit der Vereinten Nationen. Diese Entschiedenheit wird immer auch geprägt vom Engagement einzelner Nationen. Im Ruanda vor dem Völkermord hielten Politiker aus fast allen Parteien Ausschau nach dem Engagement eines neutralen Partners, und ihre Hoffnung richtete sich auf Deutschland. Dass es wiederholt und zunehmend dringlicher den Wunsch nach einer deutschen Vermittlungsinitiative gab, wissen wir vom Hörensagen. Ob dies stimmt und ob die Bundesrepublik jemals erwogen hatte, diesem Wunsch nachzukommen, wird man heute ohne eine gründliche historische Aufarbeitung kaum noch belegen können. Nach dem Völkermord war Deutschland eines der ersten Länder, die in Ruanda wieder aktiv wurden. Mit wesentlicher deutscher Unterstützung haben die afrikanischen Partnerländer mit dem Ausbau von Frühwarnsystemen und der Unterstützung von Friedensmissionen beginnen können, die es vor dem Völkermord in Ruanda überhaupt nicht gegeben hat. Was nun fehlt, ist eine systematische, unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung der deutschen Politik in den Jahren 1990 bis 1994. Dies betrifft auch die Politik im Verhältnis zu anderen europäischen Partnern; Frankreich ist bereits genannt worden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Das Ziel einer solchen Aufarbeitung sollte es sein, dass wir für die Zukunft weitere Lehren daraus ziehen und wirklich sagen können: Unser Ziel ist: Nie wieder Völkermord! Lassen Sie uns alle gemeinsam, auch vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte, eine Antwort auf die Frage finden: Warum habt ihr uns nicht geholfen? Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Beifall bei der LINKEN)