Antwort auf den offenen Brief zur Stärkung der Pflege 24. September 2021 Sehr geehrte Frau Loheide, sehr geehrte Unterzeichner*innen des Briefes, wir bedanken uns für Ihren Brief und Ihr Augenmerk auf die wichtige Frage, wie wir zukünftig gute Pflege in Deutschland sicherstellen können. Wir teilen Ihre Sorge um die Pflegeversorgung und gleichzeitig Ihre Hoffnung auf die notwendigen Veränderungen. Wir streiten seit Jahren leidenschaftlich für viele der Ziele, die Sie in Ihrem Brief vorgebracht haben. Welche Bedeutung der Pflegeberuf und die Pflege in unserer Gesellschaft und unserem Gesundheitssystem haben, ist in der Pandemie noch einmal eindrücklich klar geworden. Und auch, wie ernst es um sie bestellt ist. Die Weichen müssen in der kommenden Legislaturperiode endlich gestellt werden, an Lösungsvorschlägen mangelt es nicht. Es bedarf aus unserer Sicht verschiedener Stellschrauben und Maßnahmen, um dem Pflegenotstand wirksam zu begegnen. Gerne möchten wir Ihnen unsere Überlegungen im Folgenden kurz skizzieren. Wir müssen die Angehörigenpflege stärken, denn sie ist eine tragende Säule unserer Gesellschaft. Wir wissen, dass es in Deutschland rund 4,8 Mio. pflegende Angehörige gibt. Sie decken in unserem Land einen Großteil der Versorgung von Pflegebedürftigen ab. Etwa die Hälfte der pflegenden Angehörigen ist im erwerbsfähigen Alter und die meisten von ihnen sind Frauen. Ihre Situation ist häufig prekär. Und obwohl ihre Leistung absolut systemrelevant ist, tragen sie Lasten und Kosten der Angehörigenpflege allein. Die geltenden Regelungen gehen am Bedarf der Menschen vorbei. Deshalb wollen wir die Rahmenbedingungen für eine pflegerische Infrastruktur verbessern und den Kommunen mehr Freiräume geben, die Pflegeversorgung vor Ort zu gestalten. Wir machen uns stark für einen massiven Ausbau entlastender Unterstützungsangebote wie Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege sowie die Flexibilisierung von Verhinderungs- und Kurzzeitpflege. Mit der PflegeZeit Plus ermöglichen wir allen Erwerbstätigen eine Lohnersatzleistung für einen dreimonatigen Vollausstieg und einen bis zu dreijährigen Teilausstieg, die pflegebedingte Arbeitszeitreduzierungen finanziell abfedert. Außerdem sorgen wir dafür, dass Pflegeleistungen in einem Budget verfügbar sind – eng verknüpft mit einer besseren Beratungsstruktur. Wir müssen mehr Menschen für die Pflege gewinnen. Bereits heute sind in der Langzeitpflege und in der Akutpflege über 40.000 Pflegestellen unbesetzt, zusätzlich weitere 26.000 Stellen infolge eines massiven Personalausfalls. Gleichzeitig wird prognostiziert, dass die Zahl der pflegebedürftigen Menschen immer weiter steigt. Der Pflegeberuf muss also attraktiver werden. Wir setzen uns deshalb auch weiterhin für die verbindliche und vollständige Einführung von Personalbemessungsinstrumenten in der Akut- und Langzeitpflege ein. Pflege muss zukünftig sektorenübergreifend möglich sein. Dazu müssen wir das Silo-Denken überwinden, das Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Pflegedienste, Wohngruppen und die Versorgung in der eigenen Häuslichkeit trennt, und Pflege vielmehr nach internationalen Standards organisieren. Alters- und geschlechtsspezifische Personalkonzepte sowie Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz sollten Standard sein und dazu beitragen, dass Menschen möglichst ihr ganzes Berufsleben in der Pflege tätig sein können. Wir wollen durch eine wissenschaftlich fundierte Personalbemessung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, mehr eigenverantwortliche Arbeit von Fachkräften, den Abbau unnötiger Bürokratie und durch die Ermöglichung neuer Arbeitszeitmodelle, wie etwa der 35-Stunden-Woche mit Lohnausgleich, Arbeitsbedingungen schaffen, unter denen viele Menschen gut und gerne in der Pflege arbeiten. Die Ausnahmen im Arbeitszeitgesetz für den Gesundheitsbereich werden wir beschränken, um Überlastung vorzubeugen und den Personalverlust im medizinischen und pflegerischen Bereich einzudämmen. Damit mehr Menschen eine Perspektive in der Pflegearbeit sehen, braucht es eine Qualifizierungssystematik, die verschiedene Einstiegs- und Aufstiegsmöglichkeiten schafft. Alle Menschen, die sich für die Arbeit in der Pflege begeistern können, sollten so qualifiziert sein, dass sie sich in die Entwicklung der Pflegeversorgung einbringen können. Gleichzeitig sind Einsatzgebiete zu schaffen, die sich an kommende Versorgungsbedarfe und -strukturen anpassen. Wir setzen uns für eine Tarifbezahlung in der Langzeitpflege ein, denn Dumpinglöhne dürfen nicht mehr möglich sein. Wir werden die Pflege solidarisch, generationengerecht und nachhaltig finanzieren. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen müssen immer mehr eigenes Geld für die Pflege aufbringen. Heute erhalten pflegebedürftige Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen Pflegesachleistungen, die einem Geldwert je nach Pflegegrad entsprechen. Alles, was die Pflege darüber hinaus kostet, muss selbst bezahlt werden. Dieses Teilkostenprinzip hat zur Folge, dass jede Verbesserung, wie mehr Pflegepersonal oder eine angemessene tarifliche Bezahlung des Pflegepersonals, den Eigenanteil erhöht. Pflegebedürftige, die diese Beträge nicht aufbringen können, erhalten „Hilfe zur Pflege“. Das belastet die Kommunen in zunehmendem Maße. Im ambulanten Setting entscheidet oftmals der Geldbeutel der Betroffenen und nicht der tatsächliche Pflegebedarf, welche professionelle Unterstützung in Anspruch genommen wird. Nicht selten verzichten pflegebedürftige Menschen sogar auf eigentlich notwendige professionelle Pflege. So entsteht mitunter eine Situation der pflegerischen Unterversorgung. Die im Juni verabschiedete neue Regelung verschärft das Problem teilweise noch: Denn der nun gewährte Pflegezuschlag soll dadurch gegenfinanziert werden, dass die Leistungen der Pflegeversicherung nicht der Preis- und Lohnentwicklung angepasst werden. Das heißt: Die Pflegebedürftigen bekommen immer weniger Hilfe für das gleiche Geld. Hier müssen wir dringend gegensteuern. Das schaffen wir mit einer doppelten Pflegegarantie und einer breiten Finanzierung über eine Pflege-Bürgerversicherung. Mit einer doppelten Pflegegarantie wollen wir die Eigenanteile sofort senken und dauerhaft deckeln. So garantieren wir, dass die selbst aufzubringenden Kosten verlässlich planbar werden und wir entlasten pflegebedürftige Menschen schnell und spürbar. Die Pflegeversicherung soll alle darüber hinausgehenden Kosten für eine bedarfsgerechte (ambulante wie stationäre) Pflege tragen. Um die Finanzierung auf stabile Beine zu stellen, halten wir es für sinnvoll, die Pflegeversicherung so umzubauen, dass alle Einkommensarten von allen Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern berücksichtigt werden. Unsere Ziele sind Beitrags- und Generationengerechtigkeit. Für uns ist wichtig: gute Pflege darf keine Frage des Portemonnaies sein, vielmehr ist Solidarität die Antwort auf die Frage, wie wir gute Pflege sicherstellen. Die Pflegerinnen und Pfleger geben jeden Tag alles – es ist Zeit, dass die Politik auch alles für sie gibt. Wir würden uns freuen, nach der Bundestagswahl mit Ihnen gemeinsam an diesen Zielen zu arbeiten. Rücken wir zusammen und packen wir es an! Mit freundlichen Grüßen Annalena Baerbock Bundesvorsitzende, MdBKordula Schulz-AscheSprecherin für Pflegepolitik, MdB