Bericht über das Dialogforum Bürgerschaftliches Engagement 20. März 2015 Am 20. März 2015 hat die grüne Bundestagsfraktion beim Fachgespräch Habe die Ehre? Das Dialogforum zum bürgerschaftlichen Engagement mit zahlreichen VertreterInnen aus Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaft den Entwurf eines Positionspapiers zum bürgerschaftlichen Engagement diskutiert. Es war der Beginn eines Austauschs mit der Zivilgesellschaft über das vorgelegte Leitbild für gelingendes bürgerschaftliches Engagement.Das Dialogforum setzt sich nun online fort: Bis zum 10. April 2015 können unsere Ideen kommentiert, ergänzt oder kritisiert werden. Grüne Kriterien für bürgerschaftliches Engagement – Kordula Schulz-Asche stellte eingangs das Positionspapier vor, in dem sieben Kriterien genannt werden, die für uns Priorität haben und aus denen wir jeweils konkrete Schlussfolgerungen ableiten. Diese Kriterien sind: • Selbstbestimmt und freiwillig handeln • Empowerment: Eigene Potentiale und Ressourcen entdecken • Alle beteiligen und niemanden ausschließen – von klein an Kordula Schulz-Asche stellt das GRÜNE Positionspapier vor • Zeit und Gelegenheiten für Engagement schaffen • Stabile Rahmen für Engagement sichern – Vernetzung stärken • Transparent handeln und bürokratische Hürden abbauen • Partizipation im bürgerschaftlichen Engagement – nur wer teil hat, kann mitgestalten Die politische Partizipation sehen wir als eine spezielle Form des Engagements. Die Beispiele Stuttgart, BER oder Elbphilarmonie zeigen: Die derzeit vorgesehene formale Bürgerbeteiligung wird häufig nur als Farce wahrgenommen. BürgerInnen früh einzubeziehen hilft, die Qualität von Planungen zu verbessern, Konflikte zu vermeiden und Mitwirkung auf Augenhöhe zu ermöglichen. Das schafft in der Öffentlichkeit gleichzeitig Akzeptanz für Entscheidungen. Diskussion zum Kriterium Freiwilligkeit Es gab in der Fraktion einzelne Stimmen, die eine bürgerliche Pflicht zum Engagement forderten. Kontroversen gab es auch darüber, wo staatliche Daseinsfürsorge aufhört und bürgerschaftliches Engagement beginnt. Wo ist die Grenze zwischen Freiwilligkeit und Bezahlung zu ziehen? Wo tritt freiwilliges Engagement in Konkurrenz zu bezahlter Arbeit? Angeregte Diskussionen zwischen den Vorträgen Prof. Claudia Neu ist im Fachgespräch auf diese Fragen eingegangen: Sie betonte, dass die verstärkte Inpflichtnahme der BürgerInnen häufig im Gegensatz zum bisherigen Verständnis von Daseinsvorsorge steht. Klassische Daseinsvorsorge sieht die Verantwortung vor allem beim Staat. Es sei schwer vermittelbar, wieso Leistungen nun in Eigenarbeit erbracht werden sollen, für die Steuern und Abgaben gezahlt wurden (Sanierung von Schulgebäuden, Müllentsorgung an öffentlichen Plätzen). Claudia Neu mahnte einen realistischen Blick aufs bürgerschaftliche Engagement an. BürgerInnen sollten nicht mit Anforderungen überfrachtet, sondern mit Angeboten für Beteiligung und Engagement motiviert werden. Wenn Engagierte in Zukunft nicht bloß als Ausfallbürgen für fehlende öffentliche Infrastruktur zum Einsatz kommen sollen, dann wird es unerlässlich sein, ihnen einen Gewinn ihrer verstärkten Aktivitäten zum Wohl der Gemeinschaft in Aussicht zu stellen. Es gehe also um ein Mehr an Spielräumen, Entscheidungskompetenzen und Verantwortung für BürgerInnen. Diese Schritte erfordern aber, dass von staatlicher Seite auch Rechtsformen bereitgestellt werden, die eine aktive Mitwirkung bei der Erbringung bisher überwiegend von öffentlicher Hand bereitgestellter Leistungen ermöglichen (zum Beispiel im ÖPNV, bei der Gesundheitsversorgung). Das Ganze gehe nicht ohne professionelle Unterstützung und kreative Zusammenarbeit mit Behörden und Verwaltung. Zusätzlich gelte es zu beachten, dass Engagement heute eher projektorientiert als institutionalisiert sei. Durch passgenaue Angebote könnten zudem weitere bisher unterrepräsentierte Engagementgruppen gewonnen werden. Diskussion zum Kriterium soziale Teilhabe Wie kann dieser hehre Anspruch der sozialen Teilhabe aller umgesetzt werden? Warum wird im Osten Deutschlands bürgerschaftliches Engagement sehr viel egalitärer gelebt als im Westen, wo die Mittelschicht dominiert? Das Dialogforum zum bürgerschaftlichen Engagement Markus Runge, stellvertretender Leiter des Nachbarschaftshaus Urbanstraße in Berlin-Kreuzberg, wünschte sich eine stärkere Betonung der befähigenden Wirkung von Engagement – insbesondere für sozial benachteiligte Menschen, die sich häufig entbehrlich, überflüssig und nicht wertvoll fänden. Engagement schaffe Selbstwirksamkeit und mache Selbstbewusst. Ohne professionelle Einbettung ist seiner Ansicht jedoch keine breite soziale Teilhabe möglich: Nur wenn es genug Hauptamtliche und gut geschulte Freiwillige gäbe, könnten auch bislang im Engagement unterrepräsentierte Gruppen erreicht und ins Engagement begleitet werden. Um sozial Benachteiligte zu erreichen und sie mitzunehmen, bräuchten sie zunächst Unterstützung in der Stabilisierung ihrer persönlichen Situation. Dafür bräuchte es Zeit und die Möglichkeit, Vertrauen zwischen Hauptamtlichen und Engagierten aufzubauen. Diskussion zur Zeitpolitik Zeitpolitik wird oft auf die Frage Vereinbarkeit von Beruf und Familie reduziert. Wir denken sie weiter. Auch für Erholung, Freizeit und bürgerschaftliches Engagement muss Zeit bleiben. Wenn im Studium die Zeiten der Prüfungen kurzfristig festgelegt werden, fallen die Studierenden als Zeltlager-Mitarbeiterinnen aus. Wenn Sitzungen der Kommunalparlamente zu Zeiten stattfinden, wenn Kinder ins Bett gebracht werden, trifft es am Ende meistens die Frauen, die dann in der Kommunalpolitik fehlen. Martina Löw, die die Freiwilligenarbeit im BUND koordiniert und plant, hat das Thema Zeitpolitik kommentiert: Sie wünschte sich einen entspannteren Umgang mit dem Faktor Zeit und sah mangelnde Zeit nicht als Kernproblem. Zeit habe, wer sich die Zeit nehme. Engagement wachse vor allem aus Betroffenheit oder einem tiefen Interesse am Thema. Interesse setze Wissen voraus und stelle sich nicht unbedingt ein, wenn sich BürgerInnen in der Rolle der Ausfallbürgen für staatliche Leistungen sähen. Was Martina Löws Ansicht nach tatsächlich extrem viel Zeit in Anspruch nähme, seien politische Beteiligungsprozesse im Rahmen von Planungen, Bürgerbegehren etc. Hier bräuchten wir praktikable Antworten auf das Zeitproblem. Qualifizierung und Unterstützung von Partizipationsprozessen durch Hauptamtliche seien wichtige Bausteine. Anmerkungen der TeilnehmerInnen Es wurde darauf hingewiesen, dass die Rolle der Wohlfahrtsverbände zwischen Staat und Freiwilligen besser herausgearbeitet werden müsse, dass lokale Infrastruktur zur Engagementförderung analog der Logik des Städtebauprogramms „Soziale Stadt“ endlich flächendeckend gefördert werden müsse, dass das Lernen von Engagement bereits in der Kita beginne und vieles mehr.